Deutsche Physiker in Georgien

Die theoretische Möglichkeit der Schaffung der Kernwaffen ist nach den fundamentalen Arbeiten von Hahn und Strassman klar geworden. Sie haben die Kernspaltung von Uran unter der Wirkung der Neutronenstrahlung entdeckt, die zur Absonderung der großen Mengen Energie und der 2-3 Neutronen führt. Diese Tatsache schuf die Möglichkeit, eine Kettenreaktion zu entwickeln. Natururan besteht nur zu 0,7 Prozent aus dem Isotopen 235U, das sich für eine Kernspaltung eignet.
Deutschland war das erste Land in der Welt, wo die Arbeiten an der Schaffung der Atomwaffen angefangen haben. Man nannte sie “Uranprojekt”, und dieses Projekt wurde vom Postminister betreut. Diese Arbeiten wurden von Werner Geisenberg, Karl-Friedrich von Weizsäcker und Kurt Diebner geleitet. Geisenberg ist einer von den größten Physikern des 20. Jahrhunderts; von Weizsäcker, der Bruder des zukunftigen Präsidenten der BRD Richard von Weizsäcker, ist auch einer von den größten Kernphysikern des 20. Jahrhunderts. Nach dem Krieg war er als Direktor des Max-Planck Instituts für Physik tätig.
Manche Physiker meinen, daß die Bombe in Deutschland nicht geschaffen wurde, weil die Leiter des “Uranprojektes” ihre Schaffung unbemerkt sabotiert hatten, und nicht infolge von ihren Rechenfehlern und einem Versehen. Es ist genau bekannt, daß sich Geisenberg mit seinem Lehrer Niels Bohr am Anfang des Krieges in Koppenhagen getroffen hat. Er bemühte sich mit Bohr zur Vereinbarung zu kommen, daß Physiker von beiden Seiten die Atomwaffe nicht schaffen. Bohr aber hat sich zu ihm mißtraurisch verhalten, und sie haben eine Vereinbarung nicht getroffen. Es ist bemerkenswert, daß Physiker sowohl in den USA als auch in der UdSSR darauf geachtet haben, daß man in Deutschland mit Veröffentlichung von wissenschaftlichen Artikeln, die den Problemen der Kernphysik gewidmet waren, aufgehört haben, was sie auf einen Gedanken gebracht hat, daß man in Deutschland wahrscheinlich an der Schaffung der Atomwaffen arbeitet.
Die Arbeiten an der Schaffung der Atomwaffen in den USA haben nach dem bekannten Brief (1940) von Albert Einstein an den Präsidenten der USA angefangen. Es ist bekannt, daß die Amerikaner, mit denen in die USA emigrierte europäische Gelehrte zusammen arbeiteten, waren die Ersten, die die Atombombe geschaffen haben und welche auf Chiroshima und Nagasaki abgeworfen haben.
Zum Kriegsende, als sowjetische Truppen aus Osten und englisch-amerikanische aus Westen nach Deutschland eingedrungen waren, hat die Jagd auf Deutsche Fachleute angefangen, die in erster Linie im Bereich der Raketentechnik und der Kernphysik tätig waren. Den Amerikanern ist es gelungen, von Braun, Geisenberg und Weizsäcker in die USA zu bringen. Braun leitete später in den USA die Arbeiten im Bereich der Raketentechnik. Die sowjetische Armee hat selbst Raketen (V-2) ergriffen, die die Grundlage für sowjetische Raketentechnik geschaffen haben. Zudem ist es der UdSSR gelungen, einige bekannte Gelehrte mitzubringen, von denen später erzählt wird.
Akademiker Igor Kurtschatow, der wissenschaftliche Leiter der Arbeiten an der Schaffung der sowjetischen Atomwaffen, hat ganz bestimmt folgendes bemerkt: 50 Prozent der Verdienste im Bereich der Schaffung erster sowjetischer Kernmunitionen gehörten der sowjetischen Spionagetätigkeit, und 50 Prozent gehörten den Gelehrten. Im Prinzip beherrschten sowjetische Gelehrte schon Anfang 1945 die Hauptinformation über die Atombombe, und anscheinend gab es keine Hindernisse, sie schon im September zusammenzubauen. In Wirklichkeit aber war es unmöglich, das zu tun: es fehlte an den notwendigen wissenschaftlichen und industriellen Grundlagen, Uran- Rohstoffen, und es gab sehr wenige Menschen, die in manchen technischen und technologischen Problemen Bescheid wußten. Jetzt wissen wir gut, daß es schon längst kein Geheimnis der Atombombe mehr gibt, und nichtsdestoweniger mit welchen Schwierigkeiten der Iran die Atombombe trotz der Meinung der Weltgemeinschaft zu schaffen versucht.
Schon im ersten Nachkriegsjahr wurden in die UdSSR Hunderte deutsche Gelehrte gebracht, die im dritten Reich am Uranprojekt gearbeitet hatten. Außer den Gelehrten wurden in die UdSSR Ingenieure, Mechaniker, Elektrotechniker, Glasbläser und andere Fachleute geschickt. Nach manchen Angaben waren zur Realisierung des Atomprojekts insgesamt siebentausend deutsche Fachleute, von denen gegen 300 Menschen in Suchumi gearbeitet haben, und zum Raketenprojekt etwa dreitausend Fachleute herangezogen.
1945 wurden den deutschen Physikern Sanatorien “Sinop” und “Agudsera” in Abchasien zur Verfügung gestellt. So wurde das Physikalisch-technische Institut in Suchumi gegründet, zu jener Zeit war es ein Bestandtdeil des Systems von supergeheimen Objekten in der UdSSR. “Sinop” wurde in den Unterlagen als Objekt “A” benannt, an seiner Spitze stand Baron Manfred von Ardenne (1907 – 1997). Diese Persönlichkeit ist in der Weltwissenschaft sagenhaft. Er ist einer von Gründern des Fernsehens, Erarbeiter der Elektronmikroskope und vieler anderen Geräte.


Baron Manfred von Ardenne

Baron Manfred von Ardenne in Ober-Swanetien

Während einer Besprechung wollte Berija mit der Leitung des Atomprojekts von Ardenne beauftragen. Selbst Ardenne erinnert sich an diese Besprechung so: „Ich hatte nicht mehr als 10 Sekunden Zeit zur Überlegung. Meine Antwort hatte etwa folgenden Wortlaut: Den soeben geäußerten Vorschlag betrachte ich als eine große Ehre für mich, denn er ist zugleich Ausdruck des ungewönlich großen Vertrauens in meine Fähigkeiten. Die Lösung des Problems, um das es hier geht, hat aber zwei verschiedene Bereiche: 1. Die Entwicklung der Atombombe selbst und 2. Die Entwicklung des Isotopentrennverfahrens im industriellen Maßstab zur Gewinnung der Kernspengstoffe wie 235Uran. Die Isotopentrennung ist der eigentliche und sehr schwierige Engpass der Entwicklung. Ich schlage deshalb vor, dass allein die Isotopentrennung zur Hauptaufgabe für unser Institut und die deutschen Spezialisten bestimmt wird und dass die hier von mir sitzenden Kernphysiker der Sowjetunion die Entwicklung der Atombombe als große Tat für ihre eigene Heimat vollbringen.“
Beria hat diesen Vorschlag angenommen. Viele Jahre später war Manfred von Ardenne dem Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR Chruschev beim Empfang der Regierung vorgestellt, Chruschev hat folgenderweise reagiert: „Sind Sie derjenige Ardenne, der damals seinen Hals so geschickt aus der Schlinge gezogen hat?“.
Nach dem Besuch des Kanzlers Konrad Adenauers 1955 und der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der UdSSR, haben sowohl deutsche Gelehrte als auch alle Kriegsgefangenen Erlaubnis bekommen, in die DDR einzuwandern. Nach dem Rückkehr in die DDR ist Manfred von Ardenne Leiter des Forschungsinstituts in Dresden geworden.
Das Sanatorium “Agudsera” hatte bedingte Bezeichnung Objekt “G”. Sein Leiter war Gustav Hertz (1887-1975), der Neffe von Henrich Hertz, der uns noch seit unserer Schulzeit bekannt ist. 1925 hat Gustav Hertz den Nobelpreis für Entdeckung des Gesetzes über den Zusammenstoß eines Elektrons mit dem Atom (Franck-Hertz – Versuch) erhalten. Gustav Hertz war einer von den ersten deutschen Physikern, der 1945 in die UdSSR gebracht worden war. Er war der einzige ausländische Nobelpreisträger, der in der UdSSR tätig war. Wie die anderen deutschen Physiker wohnte er im eigenen Haus an der Meerküste und konnte sich vieles leisten. 1955 ist Hertz in die DDR eingewandert. Da arbeitete er als Professor an der Universität Leipzig und später als Leiter des Physikalischen Instituts bei der Universität. 1961 ist Gustav Hertz zurückgetreten, seine letzten 14 Jahre hat er in Berlin gelebt.
Die Hauptaufgabe von Ardenne und Gustav Hertz war die Suche nach verschiedenen Methoden der Isotopentrennung. Dank von Ardenne ist in der UdSSR eines der ersten Massenspektrometer erschienen. Hertz hat sein Isotopentrennverfahren erfolgreich vervollkommen, was möglich machte, diesen Prozess im industriellen Maßstab in Gang zu setzen.
Auch andere hervorragende deutsche Gelehrte wurden zum Objekt in Suchumi gebracht, unter ihnen war Physiker und Radiochemiker Nikolaus Riehl (1901 – 1991). Man nannte ihn Nikolai Wasiljewitch. Er ist in Petersburg in der Familie eines Deutschen, des Ingenieurs der Firma “Siemens und Halske” geboren. Die Mutter von Nikolai war Russin, deshalb beherrschte er seit Kindheit Deutsch und Russisch. Er hat sehr gute technische Bildung erhalten: zuerst studierte er in Petersburg und nach dem Umzug seiner Familie nach Deutschland studierte er an der Friedrich-Wilhelm Universität (später Humboldt Universität). 1927 hat er zum Doktor in Radiochemie promoviert. Wissenschaftliche Leuchte – Kernphysikerin Lise Meitner und Radiochemiker Otto Hahn waren seine wissenschaftlichen Leiter. Vor dem Anfang des Zweiten Weltkrieges leitete Riehl das zentrale radiologische Laboratorium der Firma “Auergesellschaft”, wo er sich als energischer und talenter Experimentator gezeigt hat. Am Anfang des Krieges wurde Riehl zum Militärministerium aufgefordert, wo er ein Angebot erhalten hat, Uran produzieren zu lassen. Im Mai 1945 ist Riehl zu freiwillig zu den sowjetischen Emissaren gekommen, die nach Berlin abkommandiert wurden. Der Gelehrte, den man zum Hauptexpert der Herstellung des angereicherten Urans für Reaktoren im Deutschen Reich zählte, hat hingewiesen, wo sich die notwendige Ausrüstung befindet. Das Werk, das sich in der Nähe von Berlin befand, war zerbombt worden. Seine Fragmente waren abmontiert und in die UdSSR geschickt. Man hat auch dahin 300 Tonnen in Berlin gefundener Uranverbindungen, transportiert. Man nimmt allgemein an, daß die Sowjetunion damit für die Schaffung der Atombombe etwa 1,5 Jahr gespart hat. Bis 1945 hatte Igor Kurtschatow insgesamt nur 7 Tonnen Uranoxyd zur Verfügung. Unter Leitung von Riehl war das Werk “Elektrostal” in Noginsk (bei Moskau) für die Produktion des Gießmetallurans neu ausgestattet. 1950 hat der Umfang seiner Produktion 1 Tonne pro Tag erreicht.
In der besonderen “Suchumi Liste” figuriert auch Max Volmer (1885 – 1965). Vor dem Krieg war er als Professor an der Universität Hamburg und dann als Professor an der Hochschule für Technik tätig, leitete das Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie in Berlin. Unter seiner Leitung wurde in der UdSSR die erste Anlage zur Produktion des schweren Wassers gebaut. Später wurde Max Volmer Präsident der Wissenschaftsakademie der DDR.
Man muß auch Dr. Max Steenbeck, den Erfinder der Zentrifuge für die Isotopentrennung von Uran erwähnen. Dr. Max Steenbeck ist später Vize-Präsident der Wissenschaftsakademie der DDR und Forschungsleiter im Atombereich geworden. Mit ihm zusammen arbeitete in Suchumi Gernot Zippe, Absolvent der Wiener Universität, Besitzer des ersten Patents für die erste Zentrifuge.
Aus Deutschland kamen die Züge mit Ausrüstung nach Suchumi. In die UdSSR wurden 3 von 4 Zyklotronen, mächtige Magnete, elektrische Mikroskope, Oszillographen, Transformatoren der Hochspannung, Feinmessgeräte u. a. gebracht. In die UdSSR wurde Technik aus dem Institut für Chemie und Metallurgie, aus dem Kaiser Wilhelm Physikinstitut, aus den elektrotechnischen Laboratorien von “Siemens” und dem Physikinstitut des Postministeriums Deutschlands geliefert.
Zum Schluß biete ich eine Information über die Arbeit an der sowjetischen Atombombe an. Es ist bekannt, daß L. Beria mit der Gesamtleitung der Schaffung der Atombombe beauftragt war. Er hat dem maßgeblichsten Physiker der UdSSR Peter Kapiza vorgeschlagen, sein Stellvertreter zu werden. Kapiza hat während eines Besuchs bei Beria diesen Vorschlag abgelehnt und sagte folgendes: “Ich habe Ihre Arbeiten in Physik nicht gelesen, und Sie – meine, aber die Ursachen sind verschieden”. Für solche Worte wäre jeder andere Mensch erschoßen, man hatte aber keinen Mut, mit so einem kompetenten Gelehrten so umzugehen. Deshalb wurde Kapiza auf seiner Datscha unter Hausarrest gehalten, wo er fertigbrachte, alleine Physik erfolgreich zu treiben.
Zum wissenschaftlichen Leiter des Projekts wurde Igor Kurtschatow ernannt, der zweifellos ein hervorragender Gelehrter war, doch die Mitarbeiter wunderten sich über seinen “wissenschaftlichen Scharfblick”. Später stellte es sich heraus, daß er viele Geheimnisse vom Nachrichtendienst wußte, er durfte aber darüber nicht sprechen. Über die Methoden der Leitung spricht folgende Episode, über die Akademiker Isaak Kikoin erzählt hat. In einer Besprechung hat L. Beria gefragt, wieviel Zeit die Lösung eines Problems in Anspruch nimmt. Die Antwort war: sechs Monate. Darauf hat Beria folgendes geantwortet: “entweder lösen Sie dieses Problem im Laufe des Monats, oder Sie werden sich damit in Orten beschäftigen, die wesentlich entfernt sind”. Selbstverständlich, daß die Aufgabe in einem Monat erfüllt war. Die Macht sparte mit keinen Geldmitteln und Auszeichnungen. Sehr viele Menschen, unter denen deutsche Gelehrte waren, haben Stalinprämien, Landhäuser, Autos und andere Belohnungen erhalten. Nikolai Riehl war der einzige ausländische Gelehrte, der sogar den Titel des Helden der sozialistischen Arbeit erhalten hat.
Das Physikalisch-technische Institut Suchumi, das immer eines von geheimsten Objekten gewesen war, wurde später in Ilja-Wekua-Institut umbenannt.
Deutsche Physiker haben eine große Rolle bei der Vorbereitung von georgischen Fachleuten gespielt, die da gearbeitet haben. Am Ende des Krieges in Abchasien sollten viele Mitarbeiter von dort aus fliehen. Das Institut wurde in zwei Teilen aufgeteilt – in Tbilissi und in Suchumi.

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Rückmeldung eines Zeitzeugen

Auf unsere Beiträge hin haben wir eine sehr interessante Rückmeldung von einem Zeitzeugen, Herrn Wolfgang Müller bekommen. Dieser lebt derzeit in Australien. Nachstehend folgen einige Auszüge aus seinen Briefen mit seiner freundlichen Genehmigung:

Lieber Dr. Augst,

herzliche Grüße aus Sydney. Ich las gerade einen Artikel von Ihnen über die deutschen Forscher und Kriegsgefangenen in Suchumi, den ich sehr interessant fand, denn meine drei Geschwister und ich sind dort geboren.

Meine Familie lebte im Lager Agudsera. Die Kinder sind dort alle geboren. Unsere Eltern waren bis 1955 an den russischen Atomforschungen beteiligt. Unsere Mutter war Sekretärin von Prof. Gustav Hertz, unser Vater als Hochvakuumingenieur bei der Isotopentrennung. Als Kind habe ich auf der Uranschlackheide gespielt, die nach russischer Manier am Straßenrand abgelagert wurden. Das Umweltbewusstsein war damals noch gering.

Ich erinnere mich selbst noch an den Besuch bei meiner Mutter im ‘Krankenhaus’, nach der Geburt meines jüngsten Bruders Olaf im September 1953. Das Krankenhaus war außerhalb des Lagers und mein Vater und ich mussten eine weite Strecke laufen. Das Krankenhaus selbst war ein schlichter, einstöckiger Backsteinbau, abgeblätterte Farbe, mit kleinen, verwanzten Zimmern. Meine Mutter fühlte sich dort nicht wohl und sie tat mir leid. Sie war sehr dünn, denn die Verpflegung in der Gefangenschaft war nicht gut. Auch wir Kinder waren alle unterernährt. Babynahrung gab es natürlich auch nicht.

Das Lager Agudsera lag direkt an der Bahnstrecke, die am Schwarzen Meer entlangläuft. In der Mitte war das Institut, wo meine Eltern arbeiteten, nicht weit davon entfernt ein Geschäft, wo die Regale meist leer waren und man dennoch anstehen musste.

Die Wachsoldaten hatten ihr eigenes Quartier. Wer rein und raus wolle, musste den Schlagbaum passieren. Ab meinem 5. Lebensjahr ging ich in eine russische Schule, die im Nachbardorf war. Auf dem Weg dorthin wurde ich bisweilen von der Dorfjugend verprügelt. Schließlich war ich ja der Sohn des Feindes! In der Schule wurde ich aber von den Lehrern fair behandelt und meine Noten waren wohl OK. Russisch sprach ich fließend. Mein Vater half mir bei der Mathematik.

Vorher war ich im Lagerkindergarten gewesen, wo ich zumeist von den anderen Kindern ignoriert wurde. Freunde hatte ich kaum, das war wohl von den russischen Eltern auch nicht gewünscht. Die Kindergärtnerinnen hatte aber Mitleid mit mir, auch weil ich eben sehr dünn war. Zur Ertüchtigung musste ich öfters ein rohes Ei auslutschen, was ich hasste, mir aber vielleicht das Leben gerettet hat. Ehe ich den Kindergarten verließ, bekam ich auch einen Roten Stern für meine Pelzmütze. Ich hatte mich so danach gesehnt. Endlich gehörte ich dazu und war so stolz wie nie mehr im Leben. Ich sage das, obwohl ich inzwischen ein Bundesverdienstkreuz bekommen habe, aber, der Rote Stern war die schönste Auszeichnung. Als ich dann 1953 vom Tod Stalins hörte, war ich echt traurig. So kann man sich im Leben eben irren!

Im Lager wohnten wir in einem ‘Finnenhaus’ aus Holz. An einer Ladenstraße aufgereiht, mit Blick auf das Meer von der Veranda. Von dort haben meine Eltern, Geschwister und ich immer die aufziehenden Gewitter über dem Schwarzen Meer beobachtet. Es war sehr aufregend.

Im Mai 1955 war dieses Leben dann plötzlich vorbei und das Lager wurde aufgelöst und alle mussten zurück nach Deutschland. Ich war damals 8 Jahre alt.

Ich erinnere mich genau, wie deutsche Männer und ihre russischen Frauen und Kinder am Bahnsteig brutal von Soldaten voneinander getrennt wurden. Es waren herzzerreißende Szenen.

Wir die lange Zugreise in die DDR antraten (versprochen war Westdeutschland, doch da kam der Zug nie an). Ich glaube, unsere tagelange Heimreise endete in Leipzig. Station machten wir in Moskau, wo wir auf der Ladefläche eines LKW über den Roten Platz gefahren wurden. Ich erinnere mich, den Kreml und Lenins Mausoleum im Vorbeifahren gesehen zu haben. Meine Familie ist dann über die Grenze in Berlin geflohen und von den Amerikanern nach Frankfurt ausgeflogen worden.

In Deutschland mussten wir dann neu starten und ich musste erst mal vernünftig Deutsch lernen. Als Kind klappt das aber schnell. Heute sind die ersten acht Jahre meines Lebens nur noch eine ganz ferne Erinnerung und doch denke ich manchmal, dass ich Agudsera und Suchumi noch einmal einen Besuch abstatten möchte. Ich weiß aber, das ist nicht einfach.

Ich grüße Sie aus dem winterlichen Sydney

P.S. …Sie fragten mich, wofür ich mein Bundesverdienstkreuz erhalten habe:
Dieses war für meine freiwillige Tätigkeit zum Wohle der deutschen Gemeinde in Australien, besonders durch meine langjährige Mitwirkung beim Aufbau und Ausbau des Deutsch-Australischen Schüleraustausches und später (bis jetzt) als Vizepräsident eines von der deutschen-evangelischen Kirche in Sydney gegründeten Seniorenheims.

Foto: Wolfgang Müller mit seiner Familie

Wolfgang Müller

Dieser Beitrag ist zur Publikation von Dr. Harry Augst vorbereitet